Im Gespräch

Demokratieprojekt Deutschland

«Es liegen Welten zwischen Berufspolitik und dem Rest der Welt …» Eine überfällige Streitschrift

Dirk Neubauer im Interview
© Dietmar Hoesel, Regiocontact Medienbüro

«Dieses komplexe, überregulierte, paragraphenreitende und oftmals autokratisch gelenkte Land braucht einen Neustart! Einen konstruktiven Diskurs darüber, wie wir künftig wieder einfacher, ehrlicher und, ja, am Ende auch demokratischer miteinander leben können.» Dirk Neubauer, Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, will unser politisches System umbauen. Sein Weg aus der Krise: das System vom Kopf auf die Füße stellen, die Hierarchie von Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen radikal aufbrechen, die Rolle von Parteien hinterfragen und alles, was geht, vor Ort entscheiden – durch die direkte Beteiligung von Bürgern. Dass dies möglich ist, haben er und seine Stadt bewiesen. 


Sie sind seit 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg im «sächsischen Outback», 2020 wurden Sie für eine weitere siebenjährige Amtszeit wiedergewählt. Sie stehen für ein basisdemokratisches Konzept von Kommunalpolitik. Sind Sie heute gefühlt da, wo Sie bei Ihrem Einstieg in die Politik («mein politischer Selbstversuch»)  hinwollten?
Nein. Lange noch nicht. Wir sind noch immer auf dem Weg. Das liegt daran, dass Politik keine Macht abgeben möchte, nach wie vor nicht. Und auch daran, dass die Bürger noch immer nicht daran glauben wollen, dass sie selbst das wichtigste Element in diesem Demokratieprojekt Deutschland sind. Wir sind noch immer eine Gesellschaft in Ausbildung. Und die Politik glaubt noch immer alleine zu wissen, was gut ist für uns alle. Und die Aufgaben, die vor uns liegen, sind gigantisch. 

«Es sind nicht die AfD, der Dritte Weg, die Querdenker und was es sonst noch so gibt, die dieses Land und die Demokratie gefährden», heißt es in Ihrer Streitschrift. «Es ist das politische System selbst, das dies alles zu verantworten hat.» An welchen zentralen Stellschrauben muss angesetzt werden, um ein Stück Richtung Zukunft voranzukommen?
Wir müssen Macht teilen. Punkt. Das bedeutet: Wir müssen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten dorthin zurückbringen, wo Menschen darauf zugreifen können. In die Kommune. Wir müssen die Parteiapparate reformieren und die repräsentative Demokratie in ihrem Mechanismus ins 21. Jahrhundert bringen. Amtszeiten begrenzen. Parteiwahllisten gegen Einzelkandidaturen tauschen. Kommunalfinanzierung komplett neu aufstellen und unsere Strukturen generell prüfen. Brauchen wir Landkreise als politische Einheiten? Können wir Bürgerinnen und Bürger in die großen Entscheidungen mit einbinden, bezogen auf konkrete Fragen der Zukunft – zum Beispiel über geloste und repräsentative Bürgerräte? Es gibt Tausende Aufgaben. Und ebenso viele Möglichkeiten. Ich sage nicht, dass ich recht habe. Ich sage nur, dass wir endlich eine aufrichtige und offene Debatte um die Zukunft der Demokratie führen müssen. Denn sonst haben wir diese vielleicht bald nicht mehr.  

Augustusburg ist als Kommune zu einer kleinen Berühmtheit avanciert, spätestens seit dem Gewinn des Politikaward 2018 für das Bürgerprojekt MeinAugustusburg.de. Gibt das nicht enorm viel Rückenwind für die Durchsetzung Ihrer Ideen von bürgernaher Politik?
Ja, das fühlt sich für alle hier gut an. Ein Beweis dafür, dass kleine Stadtgesellschaften in der Bundesliga spielen können. Und ein Zeichen dafür, was in den Menschen steckt. Wenn man sie denn wie Erwachsene behandelt und den Zeigefinger gegen ein wertschätzendes Wort und Vertrauen eintauscht. 
 
Stichwort «Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal»: Der Lebensperspektive «Berufspolitiker» können Sie wenig abgewinnen. Welche Chancen sehen Sie für eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten – wer soll das durchsetzen gegen die, die vom Berufspolitikertum profitieren?
Ich denke, dies geht. Neuerdings will die FDP die Kanzlerschaft auf zwei Legislaturen begrenzen. Die Linke macht das bei ihrem Parteivorsitz schon so. Die Parteien sind gefordert, dies durchzusetzen. Und damit den Weg für mehr Bewegung, freie Gedanken und eine wirkliche Unabhängigkeit der Parlamentarier*innen freizumachen. Nur wer sich nicht in eine Parteikarriere reinbuckeln muss, kann auch mal Unbequemes sagen und auch tun. Das brauchen wir in einer unglaublich rasanten Zeit: Mut zu unbequemen Wahrheiten! 

In Augustusburg wurde das Projekt «Covid Exit» als wissenschaftlich begleiteter Modellversuch gestartet. Welche Erfahrungen haben Sie und die Menschen in Ihrer Stadt mit den «Covid Exit»-Maßnahmen gemacht?
Mit einem Wort: Glück. Es kehrte das Glück zurück. Menschen durften nach Monaten wieder arbeiten. Andere endlich wieder ein Stück normales Leben genießen. Es war eine Win-win-win-win-Situation … Schön zu sehen, wie glücklich Menschen zu machen sind! Mit einem kleinen Schuss Eigenverantwortung. Und wenn man Angst durch Vorsicht und Hoffnung ersetzt. Das Projekt gab uns recht: Es geht, es funktioniert. Es gibt Alternativen zum Schließen. Entsprechend verheerend dann das Ende durch einen Federstrich aus Berlin. Die Notbremse hat uns noch einmal gezeigt, wie schlecht zentralistische, Bodenhaftung vermissende Politik sein kann. Und wenn Bundespolitiker solche von der Basis initiierten und umgesetzten Projekte als «Jugend forscht» bezeichnen. In vollkommener Ahnungslosigkeit, dass hintendran ein Professorenteam hängt, das die einzige Studie zum Infektionsgeschehen während der Öffnung einer kleinen Stadt fertigt.  Das ist ein weiterer Beleg, dass dieses Buch geschrieben werden musste. 

Gibt es im europäischen Ausland – in Skandinavien, im Baltikum oder den Beneluxstaaten – Ansätze einer bürgernahen Kommunalpolitik, die Sie in Augustusburg gern selbst umsetzen würden? 
In diesen Ländern bestimmen die Bürger sehr viel mehr mit. Das sieht man beispielsweise an den Quoten, wie viel Steuergeld von den Kommunen selbst, im Verhältnis zur Landespolitik, ausgegeben wird. Das zeigt auf, dass man dort sehr viel mehr Vertrauen in die Kommunalparlamente pflegt. Bei uns gibt es da eher mal ein mildes Lächeln. Als ich vorschlug, die kommunalen Fördermittel pauschal auszuzahlen, hieß es zum Beispiel: Das ist der goldene Zügel, an dem wir euch führen. Kontrolle statt Vertrauen – das ist systemimmanent. 

Ihre Streitschrift endet kämpferisch: «Entern wir die Parteien. Gründen wir welche! Lasst uns Bürgerräte gründen! Lasst uns das Land, die Städte und Gemeinden wieder an einen Tisch bringen!» Wie viel offenen, produktiven, fairen Streit braucht es für einen demokratischen Aufbruch? 
Es braucht jeden Streit, den wir kriegen können – wenn er denn konstruktiv und fair bleibt. Ohne Streit keine Diskussion. Ohne Diskussion keine Kompromisse. Ohne Kompromisse kein gutes Zusammen. Und gutes Zusammen ist Ergebnis einer guten Demokratie. Wir müssen das wieder lernen. In den Schulen, in Unternehmen, in den Räten, in der Nachbarschaft, den Ortschaften. Nicht nur in den Parlamenten! Wir müssen begreifen, dass der gut ausgehandelte, debattierte Kompromiss der Fugenkitt ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält. 
 

 

Dirk Neubauer

Dirk Neubauer

Dirk Neubauer, 1971 in Halle/Saale geboren, ist Bügermeister der Stadt Augustusburg in Sachsen. Parteilos gestartet, trat er der SPD bei, um zu zeigen, dass das politische System von innen heraus zu verändern ist.

Der Journalist volontierte bei Mitteldeutschen Zeitung, arbeitete als Reporter und Beauftragter für digitale Medien, war Marketingverantwortlicher für „Jump" und „Sputnik" beim MDR und beriet danach Zeitungsverlage zum Thema Digitalisierung.

2019 erschien sein Buch „Das Problem sind wir"„

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